Die kleinste Demonstration der Welt am 9. Nov. 2022

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Zur Erinnerung an die Reichskristallnacht 1938 hielten wir eine Mahnwache. Wir standen zu zweit vor dem Judenhaus in der Sporergasse. Es war zugig, bis eben hatte es genieselt. Eine Frau kam strahlend auf uns zu: „Sie sind wohl die kleinste Demonstration der Welt?“

Mit dieser lustigen Wahrnehmung ging es uns gleich besser. Unerwartet kam unsere treue Fan-Frau mit ihren 80 angeradelt und steckte uns eine Rose ans Schild. Wir erzählten ihr von dem Judenhaus. Es gab keine Gedenktafel. Das fanden wir alle drei unmöglich. Sofort eilte sie in den gegenüberliegenden Bäckerladen, beglückte uns mit Kuchen und schrieb auf den eckigen Pappteller „Hier war ein Judenhaus“. Das klemmten wir unter das Schild mit den historischen Daten und fanden das sofort sehr originell.

Was uns allerdings irritierte, war, dass wir zu zweit blieben. Endlich kam Ina und sagte, dass sie am anderen Ende der Gasse stehen und dort auch eine Gedenktafel sei. Wir zogen um, unser Pappschild nahmen wir mit.

Mahnwache zur Erinnerung an die Reichskristallnacht

Ich liebe es, die Leute auf der Straße anzusprechen. Wir hatten dazu einen Grund und konnten die unterschiedlichsten Reaktionen verbuchen:

  1. An den Gesichtern der Passanten sehen wir schon, ob sie angesprochen werden wollen oder lieber nicht. Die schauen bewusst weg, fliehen förmlich oder haben keine Zeit.
  2. Wir sind für manche ein Ärgernis, z.B. für die beiden Verkäuferinnen aus den gegenüberliegenden kleinen Läden, in deren Raucherecke wir etwas geschützt vor dem Zug standen.
  3. Wir werden provozierend angesprochen: „Na, alles Nazis hier? Ich wähle die AfD! Sie denken doch, dass wir alle Nazis sind!“ Eine Frau eilt vorüber: „Sie hassen alle Russen!“ Reden wollten sie nicht mit uns. Schade, so konnten sie gar nicht erfahren, was wir wirklich denken.
  4. Wir bekommen viel Zuspruch: Ein Mann mit Schürze kam direkt auf uns zu: „Von ihnen habe ich noch gar nichts gehört!“ Ich wies ihn auf die Gedenktafel hin. Er las sie aufmerksam und war ganz betroffen: „Wissen sie, ich arbeite schon seit fünf Jahren hier schräg gegenüber in dem Eisladen, und ich habe diese Tafel noch nie gesehen!“ Er bedankt sich sehr gerührt.

… Und eine junge Frau lief geschäftigen Schrittes an uns vorüber und rief uns zu: „Ich bin zwar noch keine Oma, aber sie haben recht!“

Monika


Heute: Mahnwache. Wir waren mehrere, -haben uns immer abgewechselt, jede 1-2 Stunden, waren aber die kleinste Demo heute in der Stadt :-), die Polizei hat dennoch überprüft, muss ja…

Hatten von Passanten heute viel Zuspruch: Daumen hoch, weiter so, super, gut,dass ihr das macht, gebt nicht auf, Bewunderung für Euch, danke, dass ihr das macht, auch für uns (meist junge Leute) oder, bin noch lange keine Oma, aber ihr habt ja sooo recht!

Bisschen witzig: zwei Männer gingen in einer 4er Gruppe vorbei, 2 sprachen Englisch, die anderen beiden zeigten sich interessiert, wir erklärten den Grund der Mahnwache vor dem ehemaligen Judenhaus (Sammlung zur Deportation) verweisen auf den 9. November usw., sagte der eine sehr freundlich, ja wir kennen das, wir sind Historiker und freuen uns, dass sie sich engagieren. Unseren Flyer nahm er mit, versprach, ihn durchzulesen…

Sigrid